Sabine Fröhlich: Margarete Dessoff
(1874–1944)
Chordirigentin auf dem Weg in die Moderne
368 S., geb.
Am Anfang stand ein Stimmbruch: Margarete Dessoff, Tochter des ersten Kapellmeisters an der Frankfurter Oper, wollte eigentlich Konzertsängerin werden, musste diesen Wunsch aber aufgeben, als sie im Gesangunterricht ihre Stimme verlor. Erst nach jahrelanger Arbeit mit der Sängerin Jenny Hahn gewann sie die Kontrolle über die Stimme zurück, eröffnete auf der Basis dieser Erfahrungen eine eigene Gesangschule und bildete aus dem Kreis ihrer Schülerinnen den „Dessoff’schen Frauenchor“, der vor dem Ersten Weltkrieg in ganz Deutschland berühmt wurde. Seine Konzerte entwickelten sich zu einem Forum für selten gehörte weltliche wie geistliche Chorliteratur, für wiederentdeckte Vokalsätze der Alten Musik und neue Werke junger Komponisten. Mit ihren Programmen und alternativen Konzertformen setzte Margarete Dessoff eigenwillige Akzente im professionellen Musikbetrieb. Sie versuchte, die wachsende Kluft zwischen Amateuren und Profis zu überwinden, den Frauenchor als gleichwertige Kategorie im Konzertleben zu etablieren und eine in Ritualen erstarrte Chorkultur an der zeitgenössischen Musikentwicklung zu beteiligen. Mit ihren über drei Jahrzehnte erfolgreichen Auftritten als Dirigentin stellte sie zugleich eine scheinbar naturgegebene Geschlechterordnung in Frage.
Auf dem Höhepunkt der Inflation ging sie 1923 nach New York City, übernahm die Chorklasse an der heutigen Juilliard School of Music und gründete zwei unabhängige Chöre für gemischte und weibliche Stimmen, die sich 1931 zu den noch heute existierenden Dessoff Choirs vereinigten. Ihre mit viel Mut zum Risiko gestalteten Konzerte wurden auch in New York als Höhepunkte im Musikleben wahrgenommen, von maßgeblichen Kritikern begleitet und von einem wachsenden Publikum begrüßt. Als sie sich 1936 aus dem Berufsleben zurückzog, würdigte die New York Times ihre Arbeit als richtungsweisend für die Chorkultur und den A-cappella-Gesang in den Vereinigten Staaten. Im nationalsozialistischen Deutschland als „Halbjüdin“ von Verfolgung bedroht, ging sie zunächst nach Wien und zog nach dem deutschen Einmarsch in Österreich weiter in die Schweiz, wo sie ihre letzten Lebensjahre bei Locarno verbrachte.
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